.aktuelles

29.09.2017

29.09.2017

Viele Leute aus dem Ausland haben uns gefragt, was der Ausgang der Bundestagswahlen bedeutet. Es hat sich tatsächlich was verschoben. Bei den vorhergehenden Bundestagswahlen gab es rechnerisch immer »linke Mehrheiten« (wenn man mal für n Moment SPD und Grüne als »links« zählt) – diesmal war die Mehrheit klar rechts. Und bei der Aufregung darüber wird vielleicht was Entscheidendes übersehen, das Georg Fülberth in der jungen Welt vom 26.9.2017 auf den Punkt brachte: »Die marktradikale Lucke-AfD, die 2015 durch Gauland, Höcke, Meuthen und Petry aufgelöst wurde, ist wieder da, wenngleich unter einem anderen Namen: FDP. Addiert man ihre Stimmen zu denjenigen der AfD, ergibt sich – zusammen mit Gleichgesinnten in der Union – ein gestärktes wirtschafts- und sozialpolitisches Rechtspotential.«

Es brodelt im Land.

Die »Normalisierung« geht weiter – lange Zeit war die BRD in Europa eine Anomalie: das einzige Parlament ohne rechtsradikale Partei. Bei der Bundestagswahl am 24. September wurde die AfD mit 12,6 Prozent drittstärkste Partei, im Osten zweitstärkste, in Sachsen sogar stärkste (0,1 Prozent vor der CDU). Sie bekommt damit 94 Sitze in einem auf 709 Sitze aufgeblähten Parlament. Zum erstenmal seit 1961 sitzt wieder eine völkisch-nationalistische Partei in Fraktionsstärke im Bundestag – und wird ab jetzt kräftigst staatlich gepampert: 16 Millionen Euro jährlich für die Anwesenheit im Parlament; plus einige Millionen Euro staatliche Parteifinanzierung; plus einen Teil der 450 Millionen Euro, die der Staat jährlich für die Stiftungen der Bundestagsparteien zur Verfügung stellt – Spenden werden nun auch verstärkt fließen… Dazu kommen gut dotierte Jobs außerhalb des Parlaments, etwa in Verwaltungsräten.

SPD, CDU und die CSU in Bayern erreichten alle ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis seit 1949,1 die CDU verlor 8,6 Prozent.

Die Wahlbeteiligung ist erneut leicht gestiegen, die knapp 25 Prozent Nicht-Wähler sind aber immer noch die zweitstärkste Partei.

Wählerwanderung

Die AfD hat über 1,2 Mio Nicht-Wähler, knapp über eine Million CDU-Wähler und eine halbe Million SPD-Wähler und immerhin 400 000 PDS-Wähler gewonnen. Die FDP hat 1,3 Mio CDU- und 700 000 Nichtwählerstimmen gewonnen, es sind also etwas mehr CDU-Wähler zu ihr als zur AfD abgewandert.

Die Alten

Seit Jahren rettet die Loyalität der Alten zu den ehemaligen Volksparteien das Parteiensystem (das ist in Frankreich oder Italien nicht anders). Auch diesmal haben wieder die älteren Wähler, und unter ihnen vor allem die Frauen, dafür gesorgt, dass Merkel wohl zum vierten Mal Kanzlerin der BRD wird. Aber selbst diese Bastion bröckelt: Die Wähler ab 60 Jahren stimmten zu 41 Prozent für die CDU/CSU – acht Prozent weniger als beim letzten Mal; bei den Frauen unter ihnen war es 47 Prozent – minus sechs Prozent.

Wahlverlierer CSU

Die CSU hat in Bayern zwar alle Wahlkreise gewonnen, ist aber trotzdem der eigentliche Wahlverlierer, denn sie steckt in einer strategischen Klemme. Ihre Strategie, AfD-Themen hochzuspielen, hat nicht funktioniert. Nicht nur hat in Bayern die AfD ihr bestes Ergebnis in den westlichen Bundesländern eingefahren, die CSU hat von allen Parteien prozentual am meisten verloren, von 49,3 auf 38,8 Prozent. Strukturell das gleiche Bild in Sachsen und Baden-Württemberg: In Sachsen ist seit der Wende der rechteste CDU-Landesverband ununterbrochen an der Regierung; bei der Bundestagswahl wird die AfD zur stärksten Partei, in der Oberlausitz mit Werten zwischen 40 und 46 Prozent,2 die CDU sackt von 42,6 auf 26,9 Prozent. In Baden-Württemberg verliert die CDU 11,3 Prozent und fällt auf 34,4 Prozent; auch hier war die Partei dem Kurs ihres Vorsitzenden Strobl gefolgt: schneller, konsequenter und zahlreicher abschieben. Die CDU verlor hauptsächlich bei »männlichen Durchschnittsverdienern«, 21 Prozent der Arbeiter haben AfD gewählt (zu vermuten ist, dass viele von ihnen von der CDU enttäuschte Russland-Deutsche sind; s.u.).

Trotzdem setzt die CSU offensiv auf »mehr vom gleichen«. Am Tag nach der Wahl gab Seehofer die Parole aus: »Wir haben eine offene Flanke rechts, die müssen wir schließen.« Damit sitzt die CSU strategisch in der Falle. Die Unionsparteien hecheln dem gesellschaftlichen Wandel hinterher, wollen nicht die Partei vom Land sein. Die CDU versucht, die jungen, urbanen, hippen Akademiker einzubinden. Aber mit Themen wie »Ehe für alle« verliert sie ihre traditionelle Klientel (s.o. Die große Bedeutung der älteren Wähler und die hohen Verluste auch hier!), viele sagen, sie wählen die AfD, weil sie heute das vertrete, was früher die CDU vertreten hat – und das ist nicht frei erfunden.3

Somit bleibt der »Kampf gegen die Zuwanderung« als Beitrag zur kulturellen Rückversicherung. Aber massenhafte Abschiebung lässt sich aus vielen (juristischen, politischen und sozialen) Gründen nicht durchsetzen. Und die AfD kann hier als Protestpartei viel härter auftreten und andererseits die Versuche kultureller Modernisierung mit billiger Anti-PC-Propaganda kontern, letztlich also CDU/CSU in einer Zange zerreiben.

SPD

Seit dem strategischen Schwenk der Sozialdemokratie vor 20 Jahren, weg von den traditionellen Arbeitermilieus und hin zur »globalen Klasse« (Dahrendorf) hat die SPD ihren Stimmenanteil halbiert. Es ist erstaunlich, wie stur sie den von Schröder eingeschlagenen Kurs (Hartz-Gesetze, Deregulierung der Finanzindustrie, Privatisierung) beibehält. Nach der Nominierung von Schulz zum Kanzlerkandidaten gab es an der Basis die Hoffnung auf eine Rückkehr zu sozialdemokratischen Positionen, das führte zu vielen Parteieintritten und zu Umfrageergebnissen, mit denen die SPD nun die Wahl gewonnen hätte. Aber der EU-Bürokrat Schulz blieb dabei, die »Agenda 2010« zu verteidigen. Die SPD erklärte noch in der Wahlnacht, in die Opposition zu gehen. Sogar diese Ankündigung führte erneut zu Euphorie und Parteieintritten. Die Hoffnung stirbt zuletzt bei der SPD-Basis; aber es ist ausgeschlossen, dass diese Partei noch einmal den Tiger Arbeiterreformismus zu reiten versucht.

Die AfD

Die AfD hat relativ wenige Mitglieder (im Sommer 2017 etwa 28 000), dafür aber viele Wähler. Diese wählen die Partei vor allem aus Frust über die anderen Parteien, die sie als zu ähnlich sehen. (Was nach dem strategischen Schwenk der SPD und der sogenannten Sozialdemokratisierung der CDU unter Merkel ja auch stimmt.)

Obwohl sie mit der Hetze gegen »die da oben«, gegen »die abgehobenen Eliten« usw. ihre Stimmen gewinnt, gilt der Befund für die AfD noch viel stärker: die Mitglieder sind gutgestellte Bürger und Unternehmer, die Wähler sind Arbeiter und Arbeitslose. Ideologie spielt bei diesen AfD-Wählern keine große Rolle und sie haben keine starke Bindung: Nur jeder vierte Wähler, der 2013 für die AfD votierte, stimmte auch bei dieser Bundestagswahl für sie. 20 Prozent wählten diesmal CDU/CSU, zehn Prozent SPD, sechs Prozent PDS4, drei Prozent FDP.

Die AfD konnte den verbreiteten Hass auf Merkel als Wasser auf ihre Mühlen lenken. Deren Politikstil hat tatsächlich einen großen Anteil am Hochkommen der AfD: die von ihr verkündete »Alternativlosigkeit« unterbrochen von abrupten Wenden (Atomausstieg, Grenzöffnung, Ehe für alle...), die Ent-Politisierung, die bereits Kohl betrieben hatte…

Jamaika: Revival des Neoliberalismus

Falls die SPD auch nach der Landtagswahl in Niedersachsen Mitte Oktober bei ihrem Entschluss bleibt, in die Opposition zu gehen, bleibt nur »Jamaika« (Koalition von CDU/CSU/FDP/Grüne: 393 von 709 Sitzen), Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Die Kapitalisten zeigen sich besorgt: die AfD sei »gegen das, was Deutschland stark macht« (gemeint: Exportindustrie und freier Handel). Sie wollen Jamaika und zwar schnell. Der BDI-Chef fordert Tempo beim Zustandekommen einer »tragfähigen Bundesregierung«. Neuwahlen5< bedeuteten »Chaos«; die BRD sei »letzter Stabilitätsgarant« in einer chaotischen Welt. Die Aktienmärkte würden crashen, Investoren zögen sich aus Deutschland zurück, wenn jetzt nicht schnell eine Regierung gebildet werde. Aber Jamaika dauert; CDU und CSU sind durch ihre schwachen Wahlergebnisse so erschütttert, dass erst nach Mitte Oktober überhaupt Sondierungsgespräche führen wollen. Die neue Regierung wäre somit nicht vor Januar 2018 arbeitsfähig.

Derweil wird viel darüber diskutiert, wie die gegensätzlichen Wahlaussagen von FDP, Grünen und CDU/CSU zu Punkten wie Klimaschutz, Asyl, Zuwanderung usw. unter einen Hut zu bringen sein sollen. Was dabei übersehen wird: Die Jamaikakoalition formiert sich im Angriff auf die Arbeiterklasse (Rente mit 72, Energiepolitik, Privatisierung weiterer Bereiche, Umbau der Autoindustrie,6 usw.) – der andere Kleinkram lässt sich regeln.7

Jamaika wäre auch das Ende für die von Macron8 und Juncker angepeilten Reformen der EU. Lindner hat noch am Wahlabend wiederholt, dass es mit ihm keine Vertiefung der Währungsunion geben werde. (Die griechische Börse ist seit dem Wahlausgang abgestürzt.)

Die für eine Jamaika-Koalition notwendigen Kompromisse werden allerdings das strategische Dilemma der CSU massiv vergrößern.

Gründe für den Wahlerfolg der AfD

Der Aufstieg der AfD beginnt mit der Eurokrise/Bankenrettung. Sie wächst mit Pegida und kommt seit der Flüchtlingskrise auf zweistellige Wahlergebnisse. Die Mischung aus sozialem Frust (nach sieben Jahren Konjunkturaufschwung haben sich die Löhne und Bedingungen der unteren zwei Drittel kaum verbessert) und kulturellen Verlustängsten macht ihr Mobilisierungspotenzial aus. Dazu kommt die Parole »Frieden (mit Russland)«, worüber in den Medien kaum berichtet wird. Aus vielen Umfragen ergibt sich das Bild, dass etwa ein Viertel aus Überzeugung die AfD wählt, die anderen sind Protest- und enttäuschte Wechselwähler (»sozialen Ungerechtigkeit« spielt fast eine so große Rolle wie »Flüchtlinge«).

Die Peripherie

Es gibt Leute, die können sich gar nicht retten vor Parteien, die ihre Interessen vertreten möchten. Grüne, SPD, CDU, FDP und neuerdings auch PDS wetteifern um die attraktivsten Angebote für ein urbanes Milieu mit Hochschulbildung und den ihnen zugeschriebenen Tugenden Offenheit, Buntheit und Vielfalt. Daneben gibt es mindestens genauso viele Menschen, die ihr Dasein ganz ohne Austauschsemester, Tofu und Twitter fristen und noch immer dort wohnen, wo sie geboren sind. Bei ihnen findet die AfD Zuspruch: bei den »Abgehängten«, den Wende- und Globalisierungsverlierern, an der »Peripherie« (die sog. »Strukturschwäche« im Ruhrgebiet und im Osten). In den westdeutschen Plattenbauten, etwa in Köln und im Ruhrgebiet, kommt die AfD gleich nach Nichtwählern und SPD.9 Im Vergleich zur letzten Bundestagswahl hat sich die Wählerschaft der AfD stark verändert – vor vier Jahren erhielt sie Stimmen sowohl von höheren als auch niedrigeren Einkommensschichten, diesmal erreicht sie vor allem letztere Gruppe und konnte in Wählerkreisen mit höherer Arbeitslosigkeit stark zulegen.

Die Russland-Deutschen machen drei Prozent der BRD-Wählerschaft aus. Sie stellen einen wichtigen Teil des Wählerkonglomerats der AfD. Schon bei den Landtagswahlen in Berlin, NRW und Baden-Württemberg kam die AfD in Gemeinden, wo besonders viele Russland-Deutsche leben, auf bis zu 40 Prozent.

Die Mitte der Gesellschaft

Im gesamtdeutschen Ergebnis schneidet die AfD bei den beiden mittleren »Alterskohorten« (30- bis 59-Jährige) mit 15,5 Prozent ab, also über ihrem Durchschnitt. Bei den Berufsgruppen hat sie unter den Arbeitern mit 19 Prozent ihr bestes Ergebnis (SPD nur leicht darüber). Bundesweit haben 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder AfD gewählt – also ebenfalls über dem Durchschnitt. Im Osten haben 24 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder CDU gewählt, 22 Prozent PDS, 18 Prozent SPD – und sogar 22 Prozent AfD.10

Dieselbe Struktur zeigte sich bereits in den vorhergehenden Landtagswahlen: die AfD ist besonders stark bei den mehr als 35 Millionen Wählern zwischen 30 und 60. Diese stellen 70 Prozent der Erwerbstätigen und erwirtschaften 82 Prozent der steuerpflichtigen Einkünfte. Die Versicherungswirtschaft kümmert sich regelmäßig mit groß angelegten Studien um diese Alterskohorte. Laut der letzten Untersuchung beklagen 70 Prozent von ihnen einen wachsenden Abstand bei Einkommen und Vermögen, zwei Drittel halten die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland für ungerecht. An der Spitze der Optionen für mehr Gerechtigkeit steht gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit (72%), das Abschaffen von Steuerschlupflöchern (72%) und ein höherer Mindestlohn (48%).

In den Wertvorstellungen dieser »Generation Mitte« ist das Leistungsprinzip fest verankert. Die persönliche (Arbeits-)Leistung soll die Grundlage für wirtschaftliches Wohlergehen sein: Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen (72%); Arbeitslose sollen deutlich weniger bekommen als Berufstätige (66%); die Höhe der Altersversorgung soll sich nach der Höhe der Einzahlungen richten (52%).

»Was allerdings als Leistung gilt und wer die Leistungsträger sind, das ist zwischen den einzelnen Schichten stark umstritten. Menschen aus der unteren Mitte sagen, Leistungsträger sind die Mitarbeiter, die am Band stehen oder hinter dem Verkaufstresen, und nicht die Manager.« (der Soziologe Patrick Sachweh)11

Das Leistungsprinzip ist seit jeher ein ambivalenter Bestandteil im »Bewusstsein« der Arbeiterklasse. Es dient zur Abgrenzung nach oben – aber auch nach unten. Mit großem Erfolg können Parteien wie der Front National oder eben die AfD daran anknüpfen, indem sie diese Abgrenzung nach unten »ethnisieren« (»wir müssen hart arbeiten und die Flüchtlinge kriegen es hinten rein geblasen«).

Auch der Soziologe Klaus Dörre sieht in der sozialen Gerechtigkeit, neben der Flüchtlingsthematik, das wichtigste Motiv für die Wahl der AfD. Schon früh war ihm in seinen Untersuchungen aufgefallen, dass Arbeiter mehr als Angestellte und Gewerkschaftsmitglieder stärker als andere zur AfD tendieren. Diesen Befund erklärt er so: »Je auswegloser es erscheint, als ungerecht empfundene Verteilungsverhältnisse mittels demokratischer Umverteilung von oben nach unten und von den Starken zu den Schwachen zu korrigieren, desto eher tendieren Lohnabhängige spontan zu exklusiver, ausschließender Solidarität. Das macht sie für rechtspopulistische Anrufungen empfänglich.«12

Der Osten: »Not am Mann«

In der ganzen BRD wird die AfD von Männern fast doppelt so oft gewählt wie von Frauen (16 zu neun Prozent), unter den Männern im Osten ist sie mit 26 Prozent die stärkste Partei. Im ganzen Osten stimmten diesmal knapp 22 Prozent für die AfD. Die Linke verlor deutlich und ist mit 16,2 Prozent auf Platz drei gerutscht. Noch vor vier Jahren hatte die Linke im Osten 22,7 Prozent, die AfD 5,9.

Was für Donald Trump der zornige weiße Mann in den Appalachen, ist für die AfD der zornige Ossi im Erzgebirge. Viele Männer haben noch die Vollbeschäftigung zu DDR-Zeiten erlebt, nach dem Mauerfall ihre Malocher-Jobs verloren und sind die eigentlichen Verlierer der Wende. Ihre Fähigkeiten sind auf dem heutigen Arbeitsmarkt nichts mehr wert, sie sind ohne Job und ohne Frau (Teile der Ex-DDR haben den niedrigsten Frauenanteil in ganz Europa).

Der Mann ist in der Krise – besonders im Osten. Die Arbeitslosenquote liegt bei Männern höher als bei Frauen; Männer fallen auch in der Zahl der Universitätsabschlüsse hinter die Frauen zurück. Die Deindustrialisierung traf sie besonders hart, weil Industriearbeit auch im Osten mehrheitlich männlich war. Und sie konnten deutlich schlechter mit dem Verlust ihres Jobs umgehen als Frauen. Viele Frauen wanderten in den Westen aus, andere schafften es, ihre Qualifikationen auszuweiten und in einen neuen besser bezahlten Job aufzusteigen. Die Mehrheit der Männer rutschte in geringqualifizierte Jobs oder Dauer-Arbeitslosigkeit ab. In Sachsen-Anhalt verdienen Frauen heute durchschnittlich mehr als Männer. Dies nagt am Selbstverständnis, wenn mann von sich das Bild des »Ernährers der Familie« hat.

Die Motive der AfD-Wählerschaft: Frust und Sorgen einerseits, Protest andererseits

Die Sorgen haben die Wahl entschieden; bei »Innerer Sicherheit, Integration und gesellschaftlichem Zusammenhalt« hat die AfD besonders polarisiert. Die Angst ist eine vor sozialem Abstieg und kulturellem Identitätsverlust (Mischung aus »zu viele Muslime«, Krise der Familie und Orientierung gebenden Großorganisationen). Der Protest richtet sich vor allem gegen wachsende soziale Ungleichheit und die Abgehobenheit der Eliten. Solche Protestwähler sind volatil, die PDS hat im Vergleich zur letzten Bundestagswahl 400 000 WählerInnen an die AfD verloren.

Die Medien

In den Monaten vor der Bundestagswahl waren die Medien voll mit AfD-Themen: Flüchtlinge, »Ausländerkriminalität«, Türkei und innere Sicherheit. Der negative Höhepunkt war das sogenannte Kanzlerduell zwischen Merkel und Schulz. Nico Siegel von infratest dimap attestierte Medien und Parteien ein »Agendasetting für die AfD«. Alle Umfrageinstitute sind sich einig: nur weil das Flüchtlingsthema in der Endphase des Wahlkampfs dominant wurde, konnte die AfD ein zweistelliges Wahlergebnis einfahren. »Dadurch, dass alle Parteien sich an der AfD abgearbeitet haben, ist ihr eine ganz besondere Bedeutung zugekommen, die sie in den Monaten zuvor gar nicht mehr hatte«, sagt Renate Köcher von Allensbach. Damit dreht sie das Argument – zurecht! – von den Medien weg auf die Parteien (siehe CSU: deren Strategie, sich als die bessere AfD zu profilieren, ist krachend gescheitert).

Von der Kritik an der Bankenrettung zum Kreuzzug gegen Muslime

Die AfD vereint mehrere Strömungen: (neoliberale) Kritik am Euro, völkisch-nationale Herrenideologie, Hass auf die Eliten, Fremdenhass. In letzter Zeit kommt hinzu die Verteidigung des Sozialstaats für Deutsche; nach langem Hin und Her ist die AfD seit Frühjahr 2016 z.B. auch für den Mindestlohn, den sie zunächst strikt abgelehnt hatte.

Diese Strömungen widersprechen sich teilweise heftig und lassen sich nur in einer Dynamik der ständigen Radikalisierung zusammenhalten. Im Wahlkampf hat sich die AfD erneut stark nach rechts entwickelt – »Umvolkung«, »Leistung der deutschen Soldaten in beiden Weltkriegen«, die Äußerungen des NS-begeisterten Björn Höcke zur Erinnerungskultur, usw. Die Strategie war, die Grenze des Sagbaren zu verschieben (und damit Faschos wie die Identitären einzubinden) und sich völlig auf den Kampf gegen die Zuwanderung zu konzentrieren (am Anfang versuchte Weidel, die alte Linie von Lucke – Kritik am Euro und der EU – fortzuspinnen, das zog nicht und wurde komplett aufgegeben).

Dieselbe Dynamik, die die AfD zusammenhält, führt auch zu immer neuen Häutungen: Am Tag nach der Wahl trat die Parteivorsitzende Petry aus der Bundestagsfraktion aus; im Landtag von Meck-Pomm traten vier Abgeordnete aus der AfD aus. Zum größten Teil geht es um innerparteiliche Machtkämpfe; inhaltlich ist es ein Streit darüber, wie man an die Macht kommen will: Höcke schlägt den langen, harten Weg des nationalsozialistischen Umsturzes vor; schlauere Leute wie Petry wissen, dass dieser Weg noch nie zum Ziel geführt hat und wollen deshalb über parlamentarische Mehrheiten und Regierungsbeteiligung vorangehen. Dieselbe Auseinandersetzung wird mit deutlich mehr Wucht gerade im Front National in Frankreich geführt.

Was tun?

Die sozialen und kulturellen Spaltungen in der Gesellschaft vertiefen sich seit Jahren; das tritt nun auch in der BRD im Wahlergebnis deutlicher zutage. Die AfD ist in Teilen eine völkische, rassistische Partei; in ihr organisieren sich auch harte Faschisten. Es geht darum zu kapieren, warum die Erfolg haben, auf welchen Resonanzboden die treffen. Das Wahlergebnis lässt sich relativ gut »sozial« (Arbeitslose, Abgehängte…) und »kulturell« (Russlanddeutsche, Krise des Mannes…) erklären. Die Strategie der AfD besteht darin, soziale Konflikte zu kulturalisieren (»Kampf gegen Islam und Genderwahn«), unsere Strategie muss darin bestehen, kulturelle Konflikte sozial aufzulösen, sie aber dennoch ernst zu nehmen. Die Linke muss mit ihrer Vorstellung brechen, das Verteidigen der eigenen Lebensweise sei an sich protofaschistisch oder rassistisch. Den Sorgen dieser Leute kann auch von einem linken Standpunkt aus begegnet werden. Auch indem wir denen, die sich fremdenfeindlich oder religiös fundamentalistisch äußern, scharf entgegentreten. Insgesamt rückt die Gesellschaft nicht nach rechts, der politische Diskurs hingegen sehr wohl. Die AfD kann so stark punkten, weil CSU und SPD ihr Legitimation verschaffen – aber es ist kein kühles Spiel der Mächtigen, wie Jörg Nowak im ak meinte, sondern Ausdruck ihrer Krise und teilweise ihrer Panik. Die Flüchtlingskrise kann keine der Parteien »lösen«.

Die repräsentative parlamentarische Demokratie ist genauso sehr in der Krise wie das kapitalistische System, das sie »repräsentieren« soll. Von daher aus müssen wir denken! Uns nicht an Wahlergebnissen und der Parteiendemokratie abarbeiten, sondern neue Formen finden, wie soziale Veränderungen und gemeinsame Entscheidungen organisiert werden können. (Gezi-Park, Plätze-Bewegungen, Nuit Debout…) Dabei aber über die urbanen Mittelschichten hinausgehen!

Uns interessiert nicht die AfD, sondern diejenigen AfD-WählerInnen, die keine »Faschisten« sind. Die meisten sind nicht weiter rechts als vor vier oder acht Jahren, als sie CDU, SPD oder PDS gewählt haben. »Der Aufschwung der AfD hat womöglich weniger mit herkömmlichem Rechtsradikalismus als vielmehr mit einem allgemeinen Prozess der Enthemmung, des Verzichts auf Konventionen, Regeln und Achtung zu tun. Es gibt einen neuen Spaß ... am Sich-Suhlen im Verbotenen und Unflätigen.« (Thomas Schmid am 26.10.2016 in der Welt) Das ist allerdings keine Entwarnung, sondern im Gegenteil: auch der italienische Faschismus hat als »mene-freghismo« angefangen. Das zynische Des-Interesse an allem kam zunächst als Haltung aus dem Krieg und ging dann auf die Legionäre D'Annunzios und die Schwarzhemden über.13

Auch auf der Linken »mehr vom gleichen«: Am 27. September gab die Sprecherin der IL der Presse ein Interview:14 »Nazis sollten Angst haben. Wir werden die AfD jagen. … Aber um das klar zu stellen: Wir von der Interventionistischen Linken wollen breite Bündnisse.« Es gebe intensive Debatten in der außerparlamentarischen Linken, ob man »mit der SPD oder gar CDU« solche Bündnisse »gegen den Faschismus« schließen solle. Und: »Wir haben die größte Demonstration in Hamburg seit den Achtzigern organisiert. [von was spricht sie??] Unsere Blockaden waren viel erfolgreicher als gedacht, Melania Trump konnte wegen uns das Hotel nicht verlassen. [oha!]« »Nazis verschwinden nicht, indem man sie ignoriert. Deswegen beginnen wir jetzt schon mit der Mobilisierung für den Protest gegen den AfD-Bundesparteitag am 2. Dezember in Hannover.«

Es steht zu befürchten, dass am 2. Dezember Hannover brennt – befeuert womöglich von einem deutlich rechteren Wahlergebnis in Österreich. Mit solcher Symbolpolitik (Rauchfahnen über Hamburg) spielt man den Hardlinern von De Maiziere bis Höcke in die Hände.

Warum kann die als »radikal« firmierende Linke nur in historischen Kostümen agieren? Wir stehen nicht vor der »Gefahr eines neuen '33«. Warum ersetzt sie eine radikale Analyse durch die Begeisterung für Kampagnen und Bündnisse?

Die als »radikal« firmierende Linke ist bei weitem nicht so radikal, dass sie für jemanden attraktiv wäre, der von diesem System absolut die Schnauze voll hat. Mit ihrem ganzen Kampagnenkram ist sie nicht mehr von Greenpeace zu unterscheiden. Mit ihren moralisierenden Diskursen tut sie mehr dafür, die AfD zusammenzuhalten, als es diese selber könnte (wer nicht für die gleichgeschlechtliche Ehe ist, hat kein Recht mitzureden; wer die Grenze schließen will, ist ein Rassist, usw.).

Klaus Dörre beendet den oben zitierten Artikel so: »Wir müssen den Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen.« Wenn wir nicht von »Konflikt und Dissens in Betrieb und Arbeitswelt ausgehen« überlassen wir »dem Rechtspopulismus und seiner autoritären Ideologie das Feld.«

Dazu muss die radikale Linke auch damit aufhören, ihre Abwendung von der Arbeiterklasse antirassistisch zu begründen.


Fußnoten:

[1] Bei der ersten Bundestagswahl 1949 erhielt die Union 31,0%, die SPD 29,2%, die FDP 11,9% und die KPD 5,7%.

[2] Tagesspiegel, 26.9.2017

[3] wikipedia

[4] Schon klar: diese Partei heißt heute »Die Linke«, aber das ist doch wohl wirklich zuviel der Anmaßung!

[5] cf. Spiegel online, 26.9.2017

[6] wildcat.aktuell

[7] Telepolis, 26.9.2017

[8] Telepolis, 26.7.2017

[9] Teilweise gleichauf mit der PDS. Deren Wählerschaft hat sich ebenfalls stark geändert: Die PDS erfährt wachsenden Zuspruch in akademischen und urbanen Milieus, dafür jedoch immer weniger bei ihren bisherigen traditionellen Wählern aus dem ländlichen Raum und bei den ökonomisch schlechter gestellten Schichten.

[10] dgb.de, 25.9.2017

[11] Süddeutsche Zeitung, 10.9.2016

[12] Fremde – Feinde; Der neue Rechtspopulismus deutet die soziale Frage in einen Verteilungskampf um. in: Junge Welt, 27.7.2017

[13] menefreghismo s. menefreghismo [der. del motto me ne frego; v. fregare]. – Atteggiamento di chi ostentatamente si disinteressa di tutto e di tutti, facendo egoisticamente il proprio comodo senza impegnarsi troppo nelle cose che avrebbe il dovere di fare,...

[14] FAZ net, 27.9.2017

 
 
 [Seitenanfang] [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]