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aus: Wildcat-Zirkular Nr. 3, April/Mai 1994

Jugendbewegung in Frankreich

Heiß draußen, es ist Frühling!

Von der Verkündung bis zum schnellen Ver­schwin­den eines Gesetzent­wurfs.

Seit Ende Februar [1994] entwickelt sich in Frankreich eine Jugend­bewe­gung, die nach und nach aufständische Züge annimmt. Auslöser war eine Gesetzesinitiative der kon­servativen Regierung, mit der den Unter­nehmern die Möglich­keit gegeben werden sollte, den Mindest­lohn für jugendliche Berufsanfänger (ca. 1700DM/­Monat) um 20% zu unterschrei­ten. Dies sollte auch für die Qualifizier­ten, insbesondere auch für die Ab­gänger der techni­schen Unis gelten, denen damit eindrücklich klar gemacht wird, daß auch eine Qualifikation keine Privilegien garantiert. In verschiedenen Städten in der Provinz entwickelten sich erste Initiativen gegen diesen Gesetzes­entwurf, die spontan Demos durch­führ­ten.

Die Entwicklung der Bewegung

Die Bewegung breitete sich wie ein Flächenbrand aus: so demon­strier­ten z.B. am Donnerstag, 24.3., 3000 in Valence, 5000 in Nancy, 600 in Caen, mehr als Tausend in St.Étienne, Marseille, Besancon und Toulouse, 2500 in Puy-en-Valay, 800 in Reims, 4000 in Rennes. In Nantes kam es nach einer Demo von 10000 Leuten zu Krawallen vor der Präfektion. In Lyon demon­strierten über 7000 Leute, dort war es die fünfte Demo innerhalb einer Woche...

Seit Mitte März nahm die Bewegung eine Wendung zur Gewalt, vor allen in Nantes und Lyon. In Nantes gab es in den letzten zwei Wochen fünf Demos, wobei die vom Samstag, den 26.3., mit ca. 15000 Leuten die bislang größte war, bei der es immer wieder zu heftigen Auseinander­setzungen mit der Polizei kam.

Die Forderungen der DemonstrantInnen, überwiegend SchülerInnen, Studis und junge ArbeiterInnen/­Arbeits­lose, waren dabei schon über die Ablehnung des CIP hin­ausgegangen. Wegen der harten Polizeiein­sätze tauchte die Forderung nach dem Rücktritt von Innenminister Pasqua auf. Pasqua war übrigens schon 1986 nach der damaligen Studi­bewegung wegen harter Polizeieinsätze als Innenminister abgelöst worden, als ein Student von Spezialtruppen tot geschlagen worden war. Weiterhin wurde die Freilassung aller bislang Inhaftierten gefordert. Die Gewerkschaften hielten sich zurück. Zu der nationalen Demo am 25.3. mobilisier­ten sie nicht, sie gaben lediglich eine vage Empfeh­lung ab, an der Auftaktkund­gebung teilzunehmen. Danach verpißten sie sich dann auch, bis auf einen kleinen Teil, während sich 50000 durch die Straßen wälzten. Auf den letzten zwei Kilome­tern der Demo kam es zu vereinzelten Zer­störungen von Geschäften, Telefonzellen... Die Polizei hatte sich mit ca. 3300 Uniformierten während der Demo im Hintergrund gehalten, war aber am Schluß auf dem »Platz der Nation« massiv da. Dort kam es dann in einer Ecke des Platzes zu stundenlan­gen Scharmützeln. Augenschein­lich ging es darum, die Demo auf dem Platz zu halten. Im Einsatz waren zudem 800 Zivilbullen der BAC-Ein­heit, die sich durch besondere Brutalität bei den Verhaftungen aus­zeichneten. Bilanz am Ende: 340 Verhaftun­gen, einige Verletzte und etwas Sachschaden.

In der dritten Märzwoche stiegen die Studis in die Bewegung ein, insbesondere die der technischen Unis. Dort entwickelten sich Strei­ks, mindestens eine TU in Creteil wurde besetzt, ebenso in Paris-Tolbiac. Am Dienstag den 29.3., machten in Lyon, Nantes oder Toulouse die Demos anderen Kampfformen Platz: Streiks, Sit-ins, Konzerte. In Marseille, La Rochelle, Saint-Denis und Paris-Montparnasse wurden Straßen blockiert. In St.Étienne, Grenoble und Saint-Denis wurden die Autobahnen zur Zielscheibe der Aktionen. In Rouen, Rennes, Quimper, Cahors und Perpignan gab es Blockaden der Innenstädte durch Demos. Am Mitt­woch, den 30.3., kam es in Paris zu Straßen­blockaden mit der Forderung nach der Freilassung der Verhafte­ten.

Das Gesetz wird zurückgenommen, die Demon­stration nicht

Der letzte Höhepunkt der Mobilisierung fand am Donners­tag, den 31.3., statt. Schon auf dem Weg nach Paris war die lebendige Stimmung der Demo zu ahnen. Bei Metz, weit vor Paris, besetzten Jugendliche die Abkassierungsstation für die Auto­bahngebüh­ren. Jedes Auto wurde einzeln angehal­ten, informiert was los ist und dann (na­türlich ohne gezahlt zu haben) durch­gelassen. ­Viele hatten einfach CIP auf ihre Stirn gemalt, Flugis oder Trans­parente gab es nicht.

Treff­punkt für die Demo war wie eine knappe Woche zuvor, Paris, diesmal der Place de la Bastille. Wiederum waren eine Unmenge Jugend­licher auf der Stra­ße, die Ver­anstalter gaben eine Zahl von ca. 80.000 an. Einen Tag zuvor hatte die Regie­rung Balladur den endgülti­gen Ver­zicht des CIP Projektes be­kannt­gegeben. Dement­sprechend war der un­mittel­bare Anlaß für die Demo eigentlich entfallen. Davon aber war auf der Demo nichts zu spüren.

Sicher wurde die Rücknahme des CIP gefeiert, aber die einzigen, die das immer wieder über ihre Megas rausposaunten, waren die Gewerkschaften. Die Zusammen­setzung der Demo hatte schon fast komische Züge. Auf der einen Seite die vielen jungen Leute, meist in kleineren Gruppen, wahr­scheinlich nach Schulen, organisiert. Jede einzelne laut, beweglich, gut gelaunt. Diese Gruppen wurden immer mal wieder von den (nicht gerade beein­druckenden) »geschlosse­nen Reihen« der Gewerk­schaften unterbrochen, die ihre alt bekannten Parolen verbreiteten. Deutlich war der Wille und der Wunsch zu spü­ren, die Bewegung nicht sang- und klang­los enden zu lassen. Es blei­ben schlie­ßlich auch noch einige offene Rechnungen mit der Regie­rung zu beglei­chen: ­die Frage der Freilassung der Gefange­nen der Bewegung und der Rück­nahme der Aus­weisungen der zwei algeri­schen Leute, die auf zahl­reichen Trans­parenten ange­spro­chen wurde und in den meisten Parolen präsent waren.

Die Demo setzte sich zügig in Marsch, keine Auftaktkundgebung mit langen Reden; was gesagt werden soll, wird während der Demo rüberge­bracht. Nur einmal wird während der Demo angehalten, vor einem Knast werden Parolen gegen die Knäste gerufen. Nicht nur »Die Notwendigkeit der Revolu­tion«, beschworen auf vielen Flugis (besonders denen der linken Organi­sationen), sondern auch eine Ahnung von deren Möglich­keit ist zu spüren. Zahlrei­che Handzettel und Spuckis gegen die Arbeit, Flug­blät­ter, auf denen glei­chermaßen die Arbeits­losigkeit und die Lohn­skla­verei ange­grif­fen wurde. Trans­paren­te, auf denen die all­gemei­ne Per­spektivlo­sigkeit der Jugend­lichen themati­siert wurde (»Jugend­licher sucht Gesellschaft, in der man leben kann«)...

Die Demo endete auf dem Platz »Denfert-­Roche­reau«, und dort kam es auch fast sofort zu ersten Ausein­andersetzungen mit den Bullen (wäh­rend das Ende der Demo wohl gerade den Ausgangspunkt verlassen hat­te). Zuerst wurden die Foto- und Filmreporter angegriffen, die dies erwartet hatten: sie trugen Helme, dicke Lederjacken und blieben im Block zusammen.
En passant wurde ein Nobel-­Restau­rant geplät­tet, ein Hi­Tech-­Geschäft ge­plün­dert. Die Bullen, von denen während der Demo wenig zu sehen gewesen war, hatten den Platz bis auf einen Ausweg, zugemacht. Angesichts der Größe der Demo hatten sie aber auch keinen rechten Plan. Lange Zeit begnügten sie sich damit, den »harten Kern« immer mal wieder mit Tränengas zurückzu­drängen (was den nicht besonders zu stören schien). Das ging so eine Zeit lang, dann räumten sie den Platz mit Tränen­gas, jagten die Demo die einzig offene Straße runter. Die Demo hatten sie damit zerstreut, die sammelte sich aber später zum Teil wieder an dem Platz »Denfert-­Roche­reau«, auf dem die Bullen noch alle rum­standen. Schließlich zogen sie sich zurück, es formierte sich ein spontaner Umzug in Richtung Zentrum, mit den bekann­ten Freilas­sungs­parolen, die in dem Moment, als die Bullen aufzogen, von der Paro­le »Jeu­nesse pacifi­ste« (pazi­fistische Jugend) abgelöst wurde. Diese Demo wurde − für alle recht über­raschend − in einer kleinen Straße einge­kesselt und ca. 100 Leute wurden verhaftet. Nach 2 Stun­den wurden sie alle wieder rausgelas­sen, und sofort wurde der nächste Treffpunkt verbreitet.

­Die Aus­einander­setzun­gen liefen dezen­trali­siert wei­ter; bis in die Nacht hinein kam es zu kleineren Demozü­gen, die die Freilas­sung der Gefan­ge­nen forder­ten, zu Verkehrs­blocka­den usw., w­obei die CRS nicht zöger­te, massiv die Leute zu verhaften, derer sie habhaft werden konnte: mehr als 320 waren es am Ende.

Weiterhin war zu spüren, daß die viele »Erwachse­nen« der Bewegung zumindest wohlwollend ge­stimmt waren. Während oben erwähnter kurzer Einkesselung wurden die Eingeschlossenen aus den Fenstern mit Getränken versorgt. Vorher hatten vorbeifahrende Autofahrer, Busfahrer immer wieder ermuntert gehubt. Es sei einmal dahinge­stellt, ob ein Teil dieser Zustimmung nicht auch dem Nicht­ver­stehen des Umstandes geschuldet waren, daß sie nicht sehen wollen, wie sehr »ihre Kids« das Verharren ihrer Alten in dieser Gesellschaft in Frage stellen.

Alles in allem ließ sich auf der Demo überdeutlich der Wunsch ver­spüren, das Zu­sammentreffen auf der Straße auch in Zukunft fortzuset­zen und nicht wieder in der Öde der Vor­städte isoliert, in den Schu­len und Unis selektiert, in der prekären Arbeit ausgebeutet oder auf den Sozialbe­hörden schika­niert zu werden, und die einzige Verwirkli­chung seiner Träume vom Nebel der verschie­densten Drogen zu erwarten.

Die »organisierte Spontaneität«

Die Form der Organisierung der Bewe­gung resultiert aus den Erfahrun­gen der selbstorganisierten Kämp­fe der letzten Jahre - sie besteht in der direkten Demokratie der Voll­ver­sammlungen, welche sich über ein Deligier­tensystem national ver­netz­ten. So entstehen die Koor­dinationen der SchülerInnen und Studis. Zum ersten Mal tauchten diese Koordinatio­nen im Eisenbahner­streik 1986 auf, später bei den Streiks der SchülerIn­nen, der Studis. Dann auch bei den Krankenschwestern. Sie erlauben es, einen Kampf selbst­orgnisiert zu führen. Diese Orga­nisa­tionsform setzt anderseits ein gewisses Maß an Übereinstimmung voraus. In der Regel genügte in den entstehenden Kämpfen der gemein­same Wille, den Kampf möglichst er­folgreich gegen ein be­stimmtes Regie­rungsprojekt zu führen. Danach lösten sich die Koordinationen meist wieder auf und entgingen dadurch der Gefahr einer Bürokra­tisie­rung.

Die Praxis der durch die Koordinationen organisier­ten Kämpfe spie­gelt den Bewußtseinsstand einer Bewe­gung wieder. Je schwächer die Kritik an bürokratischen Organisationen, desto leichter die Manipula­tion der Ver­sammlungen durch solche Organisationen. Die Verlagerung der Ent­schei­dungskompetenz von der Basis in überge­ordnete Gremien ist ein sicheres Anzeichen für einen solchen Mangel an Kritik.

Bleibt die Bewegung in der Vorstellung der Ab­schaffung eines bestimm­ten staatlichen Projektes gefangen, so löst sie sich mit schöner Regelmäßig­keit auf. Jedenfalls ge­währlei­stete diese Form der Organi­sie­rung die schnelle Ausbreitung eines Kampfes. Die Ein­beziehung anderer Bereiche hing bislang davon ab, ob andere von einem Projekt ebenfalls betroffen waren. Was immer die Schwie­rigkeit brachte, daß auf der hohen politischen Ebene eines Gesetzesprojektes es nur schwer zu einer Verein­heitlichung der Kämpfe »unten« kommt. Letz­tendlich waren doch alle irgendwie unterschiedlich betroffen, blieben die Spaltungen bestehen. Ein sicheres Zeichen für das bislang vorherr­schende reformi­stische Be­wußtsein, das unfähig ist, eine Kritik der Totalität der Gesell­schaft zu entwickeln und sich in tausend Trennun­gen verheddert. In Kämpfen gegen die Kür­zungen der Sozialleistun­gen, gegen Rassis­mus, gegen Sexis­mus ... außerstande, ein gemeinsames Pro­jekt einer anderen Gesell­schaft zu entwickeln, daß diese Trennungen aufhebt. Jedenfalls haben die Koor­dinationen eine deutliche Nähe zur Bewegung der Räte, die in vergangenen Kämpfen die radikalste Rolle spielte und die die Keim­zelle einer neuen Gesell­schaft sein können, wenn sie sich mit der Kritik der Totalität der Warengesellschaft bewaff­net.

Was wird aus der aktuellen Mobilisierung werden? Was ist daraus zu lernen? Vor allem auch für die hießige Situation, oder bleibt da nicht mehr, als ein aufregender Ausflug nach Paris?

1. Zunächst ließe sich mal wieder feststellen, daß »die Franzosen« schon immer militanter waren. Objektiv richtig daran ist, daß während den 80er Jahren die Kämpfe in Frankreich meist zeitlich voraus, breiter und militanter waren. Das können wir uns aber ja nicht damit erklären, daß dies eben quasi von »Natur« aus so ist. Ein Grund könnte die unterschiedliche Kontinuität der Klassen­kampf­erfahrungen sein. Während die breiten Kämpfe der ArbeiterIn­nen in Deutschland in den 30/40er Jahren durch den Faschismus, die Schützen­gräben, die Lager und einer enormen Zuspitzung der sozialen, rassistischen Ratio­nali­sierung unterbrochen wurden, gab es in Frankreich (außer auch Schüt­zengräben und Terror) zumindest noch die Erfahrungen einer relativ breiten Resistance und die (wenn auch nicht guten) Erfahrun­gen mit der Peri­ode der Volks­front in den 30er Jahren. Diese unter­schiedliche (wenn sie auch die zwei Seiten einer Medaille sind) Geschichte des Klassen­kampfes müssten wir im Zusammenhang einer doch offensichtlich unter­schiedlichen Regulierung des Klassenkonfliktes zurückführen. Balladur ist schließlich nicht einfach doofer als Kohl. Die CIP-Inititive erinnert doch eher an die Polltax als an die hießi­gen Geschichten um die Hoch­schulreform. Die Stichworte der momenta­nen Angriffe sind fast dieselben − Flexibilisieung, Lohnsenkun­gen, Ent­lassungen ... deren Umsetzung aber scheinbar nicht.
Und schließlich müßte dies dann im Kontext der Krise diskutiert werden, die das Kapital (und ja auch wir) auch in Deutsch­land seit Beginn der 70er Jahre diskutieren. Mit der Frage, ob diese (inter­nationale) Krise die oben erwähnten Un­gleichzeitigkeiten redu­ziert, ein neuer Inter­nationalismus mög­lich erscheint.

2. Das solch eine Vereinheitlichung nicht automa­tisch eintritt, ist auch an der aktuellen Bewegung in Frank­reich zu sehen. Auf der einen Seite die Jugendlichen, die die Möglichkeit einer Verein­heitlichung trans­portieren, dann die Linken, die zwar von der Notwendigkeit der Revolution reden, aber mit den Jugendlichen doch wenig anzufangen wissen (und wohl auch umgekehrt). Gerade die Versuche, die Jugend­lichen »zu politisieren«, scheinen eher zu einer Distanz zu führen. Es scheint an Strukturen zu fehlen, die außer gut gemeinten Worten, was »anzubieten« hat, was eine Ausein­andersetzung mit den Leuten, die sich gerade auf der Straße befinden, ermöglichen.

3. Aber auch den Jugendlichen stellt sich natürlich die Frage, wie es weitergehen soll. Auch hier wird viel vom »Zusammenbruch der Spaltungen« durch die Breite des Angriffes geredet. Die Jugendlichen haben sich breit gegen die Versuche gewehrt, sich in »casseurs« (Chaoten, Randalierer, Krawallmacher) und »Brave« spalten zu lassen. Auch wurden diejenigen angegriffen die dieses Bild mit Material unterfüttern, ihr Material teilweise offen den Bullen zur Verfügung stellen − die Journalisten.


Flugblatt, das auf der Demo am 25.3. in Paris verteilt wurde

Der Casseur, der uns gleicht

In der Bewegung gegen das SMIC für Jugendliche ist die Trennung in nette Demon­strantInnen und schlechte »casseurs«, die niemals gänzlich richtig war, in Scherben zerbrochen. Angesichts der Ausbreitung der ver­gangenen Demos und ange­sichts der Angeklagten in den laufenden Prozessen, ist es nun eine offenen Realität, die anzuerkennen sogar die Journalisten gezwungen sind: derjenige, der Schaufenster ein­schmeißt, ein Auto anzündet oder Steine auf die Bullen wirft, ist kein Außer­irdischer, der mühsam aus rassistischen Stereoty­pen über die Jugendbanden aus den Vororten konstruiert wird; der »casseur« ist jemand wie du und ich.

Wie du und ich ist der »casseur« ein frustierter Konsument. In einer Welt, in der das Maximum des mögli­chen Glücks sich im Besitz toter Objekte und im Konsum von Bildern verkörpert, haben wir niemals genug davon. Zwischen unseren Wünschen und uns wird es immer ein Schaufen­ster geben. Und wir werden immer Lust haben es zu zer­bre­chen.

Wie du und ich hat der »casseur« Angst vor der Gewalt: der Gewalt der Aus­weiskontrollen und der zubeto­nier­ten Städte, der Gewalt eines leeren Lebens. Und wenn zu alledem noch eine Maßnah­me hinzukommt, die die Sicherheit steigert, zum Verzicht verdammt zu sein, hat das was ganz schön nervendes, nicht? Der »casseur« ist jemand, der sich wei­gert, gebrochen zu werden.

Wie du und ich beginnt der »casseur« zu verstehen, wo die wahren Pro­bleme liegen. Es wird klarer, daß wenn die Arbeit immer rarer wird, die Waren immer zahlreicher werden.

Die Bauern und Fischer, die Kran­kenschwestern in den Vororten, die Beschäftigten bei der Air France: man spürte, wie es wuchs. Aber die Revolten sind verdammt zur Ohn­macht, wenn sie zerstreut sind, einge­sperrt in die Grenzen der Korpo­ratio­nen, der Betriebe, der Banden oder der Viertel. Mit der Bewegung gegen das CIP und den letzten Demos begannen diese Grenzen durch­lässig zu werden. Denn die neue Version des SMIC für Jugendliche greift nicht mehr allein die Ausge­grenzten an, wie es die Sozialkür­zungen getan haben, sondern auch den »priviligierten« Proletarier: der qualifizierte Techniker kritisiert, seinen Platz auf der Straße am Ausgang der Uni zu finden. 1990 hatten die Plünde­run­gen der Vorortbanden zumin­dest dazu gedient, die Kids der Mittel­klassen daran zu erinnern, daß sie privilegiert sind. Ihre Privile­gien mochten mies sein, sicherlich, aber da sie noch zahlreich waren, schienen sie ihnen wichtig genug, sie zu verteidi­gen, indem sie sich lauthals von den »casseurs« entsoli­darisierten. 1994 macht das SMIC endgültig die Brüchigkeit dieser Privilegien sichtbar. Das brachte eine Reaktion, die man bisher nicht gese­hen hatte: in den Krawallen auf den Straßen, Seite an Seite Schü­lerInnen, Studis und junge ArbeiterIn­nen zusammen. Hin und wieder mit aktiver Sym­pathie von Arbeitern, die unter der Knute der Lohnskla­verei bleich geworden sind.

Dieses Zusammentreffen macht das Wiederauf­tauchen einer wahr­haften Opposition gegen die kapitalistische Ordnung möglich.

Das ist der erste der Gründe, heute die »casseurs« in ihrer Eigen­schaft als solche zu verteidigen. Der zweite Grund: wenn wir Staat und Medien über die Etiketten entscheiden lassen, die sie uns anhef­ten bevor sie uns beseitigen, werden wir morgen die Gelegenheit haben, auf eine unangenehme Art und Weise zu erfahren, daß die »cas­seurs« tatsächlich wie du und ich sind.

Freiheit für die Eingeknasteten von Nantes, Garges-Les-Gonesse, Lyon Paris und anders­wo!!

Stop aller Maßnahmen der Strafverfolgung gegen die Verhafteten (sogar für die Studis)

Arbeit, gibts noch welche? Endlich eine gute Nachricht

Denn wir, wir haben die Arbeit niemals geliebt. In der Zeit, in der es noch genug davon gab, ging man immer nur mit Widerwillen zu ihr. Für uns, die wir sie Maloche nennen, war die Arbeit, wie ihr Name es nahelegt, eine Qual. Wenn sie heute knapp zu werden beginnt, dann deshalb, weil es Zeit ist, sie abzuschaf­fen. Und das ist umso bes­ser!!

  • Wie das? Aber muß man nicht arbeiten um zu leben?
  • Quatsch! Wenn die Menschen in den Wäldern zur Jagd oder zum Ernten gingen, sagten sie: »Ich gehe zum arbei­ten«?
  • Aber du willst doch nicht zurück in die Steinzeit?
  • Natürlich nicht. Aber ich will einfach zeigen, daß die Arbeit nicht immer existiert hat, und daß es keinen Grund gibt, daß sie immer existieren sollte.
  • Aber wer soll denn alles herstellen, was wir zum Leben brauchen?
  • Was denn herstellen? Drei Viertel des produzier­ten »Reichtums« ist nutzloser Schund, geschmack­lose Nah­rungs­mittel, auf den Markt ge­schmissen, um die Maschine am Laufen zu halten. Und was das betrifft, was tatsächlich nützlich ist: schon seit langem können das die Ma­schinen produzieren.
  • Aber was sollen wir aus unseren Tagen machen?
  • Die Musiker, die ihre Stunden über Instrumenten verbringen, die begeisterten Schrauber, die ihre Hände stunden­lang in die Wagen­schmiere tauchen, die Demonst­ranten, die Stunden lang mit witzigen Parolen durch die Straßen ziehen, die Feinschme­ker, die Stunden an ihrem Herd stehen, um uns mit ihren raffinierten Gerichten zu er­freuen, Computer­freaks, die ihre Zeit damit verbringen, ihre PCs zu programmieren, arbeiten sie? Nein. Obwohl sie eine unglaubliche Energie aufbringen. Sie sind aktiv, sie machen was, sie stellen was her, sie sind schöpfe­risch...aber niemand entscheidet für sie, wie sie ihre Zeit gebrauchen: Sie arbeiten nicht!
  • Also, was heißt das?
  • Anstatt der Arbeit hinterherzurennen, wäre es an der Zeit, uns ebenfalls zu aktivieren. Alles was wir brauchen kann auf diese Art hergestellt werden, ohne Zwang, zum Vergnügen.
  • Alles in allem, für dich ist das Dilemma Arbeit-­Arbeits­losigkeit das falsche Problem?
  • Genau. Unsere Gesellschaft macht eine noch nie dagewesene Krise durch, in der die Unternehmer, die Politiker der Rechten und der Linken und die Gewerkschaften gezeigt haben, daß sie nicht mehr können. Sie sind heute genauso nutzlos und schäd­lich geworden wie die Arbeit. In Zukunft ist es an uns, ohne sie zu entscheiden, wie wir leben wollen.

Man hat die »casseurs«-Fabrik gefunden

Schon seit einigen Jahren verlor man sich in Mut­maßungen: als es früher im Verlauf von Demon­strationen vorkam, daß Unzu­friedene auf die polizei­liche Willkür antworteten, sah man in diesen ver­gangenen Zeiten nicht mehr als demonstrierende gute Kinder, die unfehlbar von »casse­urs« über­rannt wurden. Von die­ser Muta­tion läßt einen allein der zweite Aspekt perplex: daß Demonst­ranten, gut eingerahmt von »verantwortli­chen« Organisa­tionen, sogar weniger aggressiv als Kälber waren, das konnte einen nicht erstaunen in Zeiten, in denen man Arbei­ter sehen konnte, die »streikten«, wäh­rend sie arbeiteten, und Arbeitslose, die dafür bezahlen, daß man sie beschäftigt. Aber diese »casse­urs«, die regelmäßig die anständi­gen Bettler, die in Ruhe demmon­strierten, überrannten, wer waren sie? Woher kamen sie?

Alles bewies, daß diese »casseurs« nichts mit denen zu tun hat­ten, deren Schlapp­heit und weiner­liche Resi­gnation sie in Verruf brachten, indem sie Forderungen, die eben­so achtbar waren wie dazu bestimmt, im Papierkorb zu landen, durch ihre Aggressivität schädigten. Und dann? Diese Frage kehrte immer wieder: je öfter die »casseurs« auf­tauchten, je mehr sie wurden, umso rätselhafter schienen ihre Ur­sprün­ge und Grün­de.

Sicherlich, einige Male hatte man geglaubt, an den Grund des Mysteri­ums gerührt zu haben. Die Fern­sehsen­der machten uns den Mund wässrig: man hatte einige »casse­urs« gefangen, man würde uns welche zeigen! Aber was sah man schließlich? Fernfahrer, Bauern, Arbeits­lose, Ju­gendliche aus den Vororten, sogar Stu­dis! Tatsäch­lich: wütende Leute, wenig kon­form mit der Rolle des Schreckge­spenstes, die man sie spie­len lassen wollte. Aber der wahre »casseur«, dieses Monster, das unauf­hörlich auf unseren Bild­schirmen, in den Zeitungen und auf der Treppe des Elysee beschworen wurde, blieb unsichtbar. Wo versteckte er sich? Nun aber, da uns eine soziale Unzufriedenheit begegnet, enthüllt sich plötzlich die Wahrheit. Wir werden sie euch in ihrer ver­blüffen­den Nacktheit preisgeben: die wahrhaften »casseurs«, wenn es wahr ist, daß sie von oftmals verborgenen Kräften getrieben wer­den, sind weit davon entfernt, so obskur zu sein, wie man dachte. Ganz im Gegenteil sind sie voll­kommen sichtbar. Aber sie verbergen ihre Frevelta­ten hinter der ungeheuren Fassade, die von einer omni­prä­sen­ten Propaganda kulti­viert wird: sie lassen sich feiern als Er­bauer, als Fortschrittliche, als Wohl­täter, obwohl sie immense Ver­heerungen und unzählige Leiden verursachen. Die wahren »cas­seurs« sind jene bizarren Wesen, die den Planeten und das Leben ihrer Zeit­genos­sen durch »ökonomische« Ent­scheidungen von äußer­st barbarischen Zynismus zerstören; es sind die Hohen ­Priester der Waren­religion, die - unter dem Vorwand, für das Glück der Menschen zu sorgen - dem Kult der »Rentabili­tät« Millionen Män­ner, Frauen und Kinder opfern; es sind die HERREN DES KRIEGES der Händler, die ­von Auspressung und Raub leben; es sind die multi­nationalen Mafio­si, deren Gangs sich oftmals bekämp­fen, die sich aber immer darauf ver­ständi­gen, das schwache Schaf zu scheren oder den Ochsen, der vor dem Joch widerspenstig ist, zu schlachten; es sind die Spezia­listen in der Kunst, ihre Bröt­chen aus dem Schweiß auf der Stirn anderer zu ver­dienen, die alle Tricks kennen, das Fell derjeni­gen vor Schw­eiß triefen zu lassen, die keine andere Möglichkeit zum Überleben haben, als ihre Arbeitskraft unter den häßlichen Bedin­gun­gen eines versperr­ten Arbeitsmarktes zu ver­kaufen, der jede Erpressung erlaubt, und die all die Techniken be­herr­schen, jene Zitronen wegzu­wer­fen, nachdem sie sie ausgepreßt haben, ohne zu viele KERNE zu erhalten. Die wahren »casse­urs« sind jene Hyänen, die, verlockt durch den Gewinn, kon­taminiertes Blut verkaufen, die in der Natur alle Arten von Giften verteilen, während sie sie bis zum Äußersten aus­plündern und zubeto­nie­ren:... die Rou­lette spielen mit dem Schnellen Brüter, die Ton­nen von ver­dorbenen Lebens­mitteln verkaufen und an die Tür eine Verkäufe­rin setzen, die eine Fru­cht ißt, DIE FÜR DEN MÜLLEI­MER BESTIMMT IST; die die Strände mit Sprengkörpern überschwemmen, etc.. Die wahren »cas­seurs« sind die austausch­baren Politiker, die die Leicht­gläubig­keit der Leute aus­nutzen, um sich auf die Posten der Ver­waltung der »öffentli­chen« Angele­genhei­ten wählen zu lassen, wo sie heimlich ihre Schäf­chen ins Trockne bringen können; diejenigen, die mit ruchlosen Gesetzen die »Bürger« malträtie­ren, als deren Re­präsen­tanten sie angesehen werden, diejeni­gen, die tausende von Kindern, tausende von Fremden in eine prekäre Situation bringen auf dem Boden, auf dem sie gebo­ren sind, und die Familien und Paare durch brutale Aus­weisungen ausein­ander­reißen; diejenigen, die die Freiheiten mit den Mit­teln von Verboten, Strafen und Gefängnissen verteidigen; dieje­nigen, die Mädchen, die ohne Helm auf dem Mofa fahren, in den Rücken schla­gen, die im Vor­beifahren die Oussekine1 zu Tode knüp­peln; und die, die jene bezah­len und sie decken. Die wahren »casse­urs«, das sind die schwar­zen Kohor­ten der Söldner, die prügeln, ersticken, verletzen, ver­stüm­meln, töten, und DIEJENI­GEN, DIE IHNEN DIE BEFEHLE DAZU GE­BEN. Da sind sie, die wahren »casse­urs«.

Die anderen, die uns die lakaienhaften »CASSE­URS DER SPRACHE« heute unter dieser Bezeich­nung, die sie als ehrenrührig verstan­den wissen wollen, präsen­tieren, sind die logischen Pro­dukte der Situation, die die Er­steren geschaffen haben: Revol­tierende, die noch SEHR GEMÄßIGT die Aggressionen erwidern, deren Objekt sie sind: in jedem Augenblick ihres Lebens und unter so vielen »mo­dernen« Formen, die immer ver­fälschter sind. Und der Höhepunkt der Täuschung, DER DIE WAHRHEIT UMKEHRT, um die »casse­urs« für einen öffentlichen Rachefeldzug herzu­richten, hat kein anderes Ziel, als sie zu isolieren, um sie besser zu besiegen, zu ver­hindern, daß andere von den herrschenden Mächten Betrogene ihre Be­schwerden nicht mit den Be­schwerden der »casse­urs« verglei­chen und sich mit ihnen verständigen, um DIE SOZIALE ORGANI­SA­TION ZU ÄNDERN, DIE DAVON DIE URSACHE IST. Aber wer kann sich noch miß­brauchen lassen von dieser Sorte von Manipu­lation, der bevor­zugten Technik einer zittern­den Macht? Die Luft in diesen Tagen, in denen man mit Freuden sieht, wie die Resignation weg­gewischt wird und wie die Wut die Straße zurück­erobert, müßte - hoffen wir es - die blind machenden Schwaden jenes Tränengases für den Geist auflö­sen, und sie müßte Reflexe hervorbringen, die gesünder sind als die von »­Vogel-­Strau­ß-Herden, die die Minister so glück­lich machen. Das Beispiel jener BewohnerInnen von Nantes, die den Bullen trotzen, um die Be­freiung aller bei den jüngsten Aufruh­ren Ver­hafteten zu fordern, wärmt das Herz. Wünschen wir uns, daß es überall wiederholt wird und das die Ausge­beuteten, die man gerne spalten würde, sich zu vereinen wissen und den Geist ihrer Ah­nen, der Kommunarden, wiederfinden, die, als sie sich von ihren Feinden als Kanail­len bezeichnet sahen, stolz erwider­ten: DAS IST DIE KANAIL­LE. GUT - ICH BIN EIN TEIL DAVON!

Von Arschlöchern »Strolch« genannt zu werden, ist nicht beleidi­gend. Diejenigen, die 1968 »allesamt deutsche Juden« waren und 1986 alle »geistiges AIDS« hatten, werden es heute nicht schlimm finden, in den Augen derer als »casseurs« dazuste­hen, die weiter­hin verzweifelt die Leute nach ihrem Belieben malträtieren. Jene, die wirklichen »casse­urs« der Mensch­lichkeit, die Könige der Lüge und des Schlagstocks, wis­sen, daß ihre Hoch­burgen der Macht bekannt sind und geschleift werden können, kaum daß ihre Opfer dies mit genügend Energie wollen. Man versteht, daß sie Zuflucht nehmen zu allen Ver­leumdungen und allen Tiefschlägen, um zu ver­suchen, sich an der Macht zu hal­ten. Aber es ist nicht gesagt, daß das immer funktio­niert.

Es gibt keine uneinnehmbare Bastille!

(Komitee zur Verteidi­gung der aufständischen »cas­ses«­, ­Nantes, 20.­März 1994­)

Ausschnitte aus Flugblättern, die auf der Demo am 31.3 verteilt worden sind:

Eine Bewegung, um Alles zu zerschlagen!!

Diese Welt hat uns, egal ob mit oder ohne Diplom, nichts anzubieten als die Gewalt der Verachtung und der Aus­beutung. Dank der Bewegung gegen das CIP werden wir immer zahlreicher, die, die gegen diese Gewalt auf der Straße ihren Wider­stand ausdrücken.

Knüppeleien, vorbeugende Festnahmen, Beschuß mit Tränengasgrana­ten, gerichtliche Schnellver­fahren und massive Ver­urteilun­gen, Ab­schie­bungs­versuche, massive Unter­wanderung der Demos durch Zivilbul­len: nachdem diese Entfaltung von Gewalt es nicht geschafft hat, eine bislang nicht gesehene Mobi­lisierung zu stoppen, spielt die Regierung heute die Karte des »Dia­logs« aus und schlägt den Jugendlichen ohne zu lachen vor, ihnen zu helfen, innerhalb von acht Tagen eine Lösung für die Arbeits­losigkeit zu finden. Das Fern­sehen organisiert pseu­do-­demokra­tische Shows, zu denen der Faschist Madelin kommt, um das gute Ver­sprechen Balladurs mitzubringen. Nie­mand läßt sich davon betrügen, es handelt sich einzig und allein um einen Schwin­del, um die Bewegung zu zer­brechen und bis zu den Schul­ferien durchzuhal­ten. Die Kost­probe der einge­setzten Gewalt über­trifft bei weitem die Frage des CIP. Die Demonst­ranten haben auf der Straße die Repression und die Solidarität wie­dergefunden, sie dürfen weder die eine noch die andere vergessen. Alle »casseurs« der Schau­fenster, der Bullen und des CIP sind unsere Genossen. Heute muß es das doppelte Ziel der Bewegung sein, die Mobi­lisierung gegen die Gesamt­heit der sozialen Organisa­tion auszuweiten und eine General­amnestie zu erreichen, die Befrei­ung aller Eingekna­steten ohne jede Ausnahme, und die Rückkehr der Ausgewiesenen!

Befreiung der Eingeknasteten von Nantes, Garges-Les-Gonesse, Lyon, Paris und anderswo!
Weder Justiz noch Knäste werden unsere Rebellion stoppen!
Das CIP ist tot! Greifen wir weiter ein!
Weder Arbeitslosigkeit noch Lohnsklaverei!
Versammeln wir uns wieder an der Fakultät von Tolbiac am Freitag, um 12 Uhr

(Ver­sammlung vom 29.März)

Nantes – Kommuniqué vom 24. März 1994

Wir legen gleich zu Anfang großen Wert darauf zu präzisieren, daß unsere Bewe­gung autonom ist. Wir arbeiten nicht für die politi­schen Partei­en, die gerade ihre Ministersessel denen über­lassen haben, die heute regieren, und auch nicht für die, die sich dort gerne nieder­lassen würden. Die General­ver­sammlung weiß, daß ihre Autonomie und ihre Demokratie ihre haupt­sächliche Kraft ausma­chen. Nach der Demon­stration vom 17.März meldeten die Polizei und die Journalisten, daß es 10 Verletzte gab, fünf davon schwer verletzt; es war nicht mög­lich, die genaue Zahl her­auszubekom­men, Neuig­keiten über ihren Ge­sundheits­zustand oder um wen genau es sich handelt. Wir fordern, mehr über die Verletzten zu erfahren, und zwar so schnell wie möglich. Wir rufen alle Welt zur Wachsamkeit auf, die Familien und Angehörigen dazu, uns ihre Namen mitzuteilen. Wir sind empört und wütend über die gestrigen Verurteilungen von 8 De­monst­ranten. Schlie­ßlich verurteilen wir die Abschie­bung der zwei Algerier, die zu der Zeit verhaftet wurden, zu der die Demon­stration in Lyon lief; die Abschie­bung reiht sich ein in eine Logik der Dis­kriminierung und der Vor­enthaltung von Rechten. Dieses Krimi­nalisie­rungsver­fahren ist nicht das Monopol der gegen­wärtigen Regierung, sondern auch der frühe­ren Regierungen und der anderen Parteien der »Opposition«. Wir verurteilen auch das Bild, das von uns und denen, die uns im Kampf getroffen haben, gemacht wurde. Der Begriff »casse­ur«, der nichts aussagen will, wurde mit einem einzigen Ziel dauernd benutzt: das zu besudeln, was wir sind und was wir tun. Wir wissen, daß die Gewalt einiger Demonst­ranten während der Demos nur eine Antwort auf die Gewalt ist, denen sie tagtäglich durch ihre Lebens­bedingungen unter­worfen sind: deswegen sind wir mit ihnen solida­risch. Jedenfalls ist festzuhalten: wenn der Begriff »casseur« irgend­etwas aussagt, dann sind die einzigen wahren »casseurs« dieje­nigen, die durch ihre ökono­mischen und politi­schen Entscheidungen das Leben von Millionen Men­schen zerstören, durch Arbeitslosig­keit, Ausgren­zung, Unsicherheit, Elend und Re­pression. Man beantworte unsere Fragen zu den Verletz­ten! Befreit alle ange­klagten Personen! W­ir rufen auf zur Einheit der Arbeitslosen, der Arbeiter, der Prekä­ren, der Schüler und Studenten, egal welcher Nationalität! Zusammen werden wir sie­gen! Gezeichnet: die Vollversammlung der Studenten unter Betei­li­gung von Schülern, Ar­beitslosen, Prekären, Arbeitern jeder Herkunft

Charlie Hebdo

(die Zeitung hat es schon Ende der 60er Jahre gegeben):

Mit dem Kopf gegen die Wand. Vor unseren Augen passiert etwas Enor­mes, etwas, was vielleicht­ noch nie gesehen wurde: eine Revolte ohne Pro­jekt, eine Revolte ohne Veränderungs­vorschläge, eine Revol­te des puren Widerstandes. Eine Revolte der Ver­zweiflung. Bis jetzt ging man auf die Straße, um eine Veränderung zu erreichen. Man wußte, was man wollte. Das ungerechte Gesetz, oder die Anordnung, oder das Dekret oder was immer der Akt der Regie­rung war, der die Wut der Bevölke­rung hervor­rief, war nichts als der berühmte Trop­fen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Man ergriff die Gelegenheit einer großen Wut am Schopf, um zu versuchen, die Macht in die Luft zu sprengen und sie durch das zu ersetzen, wovon man träumte. In jeder Revolte gab es eine Utopie.

Die jetzige Revol­te hat kein Projekt. Sie weiß al­lein, daß sie den Mist von Balladur nicht will, und, all­gemeiner, daß sie nichts von dieser Gesellschaft will, in der die Arbeit mehr und mehr ein knaus­rig verteiltes Privi­leg ist, in der die Lohnarbeit bald kein Recht mehr haben wird, in der die Studien zu nichts füh­ren...Dieses Mal war der Wassertropfen das CIP. (...) ­Unter dem Deck­mantel, den Jugend­lichen helfen zu wol­len, sich in der akti­ven Welt durch­zuwur­steln, soll die Preka­rität der Lohn­arbeit zur Normalität werden, machte man einen ersten Schritt zur Rückkehr zu der furchtbaren Situation der Arbeits­welt zu Anfang der indu­striellen Expansion. Sicherlich macht diese Maßnahme der Ver­wüstung, die nichts löst, nic­hts anderes, als die Verwirrung einer Regierung in die Anordnungen der Mächte des Geldes zu über­setzen. Da diese kein ande­res Ziel als den Profit haben und es nicht mehr, oder kaum mehr nötig haben, dafür menschliche Arbeits­kraft einzuset­zen, schmeißen sie scham­los die arbeits­amen, überflüssig gewordenen Massen auf die Straße, um den Politi­kern die Sorge zu überlas­sen, sich mit diesen Problemen rumzu­schlagen. Daher kommt eine Ge­sell­schaft ohne Zukunfts­vision, ohne anderes Projekt als den sofor­ti­gen Profit für die, die an dem Tisch sitzen, wo sich das abspielt, ohne eine andere Quelle als die der quälenden Konkurrenz, gepeitscht von ande­ren Gierhäl­sen. Eine Gesell­schaft, die am Ende ist, die nichts ande­res ver­spricht als neue Bedürfnisse zu erfinden, d.h. neue Quel­len des Profits, die wohl­über­legt einen immer größeren Rand von Hin­ter­lasse­nen aus Berech­nung akzeptiert, die wenig kon­sumieren, die gerade am Leben erhalten werden. Eine solche Gesell­schaft hat einen Namen: es ist die allzu berühmte Konsumgesell­schaft, die von den »Wütenden« im Mai 68 vorher­gesagt und angegrif­fen wurde, die so viel taten, die seriösen Leute zu foppen. Der Mai 68 war auf den richtigen Weg. Wir kommen daher und sind mitten in dieser Drecks­kon­sumge­sell­schaft. Die vorher­sehbaren Konsequen­zen sind da. Vor 1981 konnte man sich ein­reden, daß die Scheiße, in der man sich befand, den langen Jahren der rech­ten Regierung geschuldet war. Das geht heute nicht mehr, da die sozia­li­stische Regierung nichts Grundlegen­des geändert hat; die Kommuni­sten haben die Chance nicht genutzt, revolu­tionär zu werden;

Heiß drauß­en, es ist Früh­ling!
Heute Abend bringen wir euch das Feuer

Ob das CIP zurückgezogen ist, zur großen Genug­tuung der gewerk­schaft­lichen Possenreißer, oder nicht, was wird das für uns än­dern? Nich­ts! ­We­der für die Millionen Ar­beitslosen, die gezwungen sind, um ihr Über­leben zu betteln, noch für diejenigen, die Arbeit haben und deshalb keine Zeit zum Leben. Man will uns glauben machen, daß das Glück darin besteht, sich anzupassen, ein Leben in einer langweiligen Familie zu führen, Metro, Arbeit, Schlaf. Man will uns glauben ma­chen, daß wir uns in der Arbeit verwirklichen, während sie uns einer au­thentischen Existenz entfremdet. Man will uns glauben machen, daß wir Glück haben, trotz allem, denn anderswo sieht's schlimmer aus; daß die Ökonomie wieder anspringen wird; daß sich unser Horizont erwei­tern wird über eine Welt, wo jeder profitieren kann von seinem be­zahlten Urlaub, während dem man das Recht besitz­t, einen Teil der Scheiße zu konsumieren, die durch unsere Arbeit produ­ziert wird. Wir wollen euer verblödetes Leben nicht! Wir wollen eure verfaulte Welt nicht!

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